IGOR TATSCHKE & AG MAUERSTEIN

„Im Sommer 1987, bei der Vorbereitung meiner ersten Ausstellung in der Galerie Deloch, kam mir die Idee als Projektnamen und Signatur AG MAUERSTEIN zu verwenden. Mit DER ZIEGELBRENNER hatte B. Traven um 1920 seinen anarchistischen Heften einen starken Namen gegeben. An einen Namen dieser Art dachte ich auch und kam von Ziegelbrenner zu Ziegelstein und dann auf: Mauerstein. Mit AG wurde dann so eine Art Werkstattcharakter erklärt, jeder der mithalf war dabei. Dadurch wurde eine Art subversives Netzwerk simuliert, welches Auf- und Anregung erzeugte bei Freund und Feind. Bedanken muß man sich heute allerdings auch beim damals noch sichtbaren Feind für seine ungeteilte Aufmerksamkeit.“

Nach amtlicher Strafverfügung von 300 Mark wurden die Installationen abgebaut und die Ausstellung fand ihre Fortsetzung in der Galerie der Umweltbibliothek der Zionskirche im Prenzlauer Berg. Der Galerist Jörg Deloch erhielt die Drohung der Zuweisung eines Arbeitsplatzes für den Fall, dass er seine Galerietätigkeit nicht einstellen würde.
1987 wurde dann die Umweltbibliothek zum Ort der zweiten Ausstellung von Igor Tatschke und der AG Mauerstein. Als legendärer Treffpunkt linker DDR-Opposition war er chaotische und anarchistische Bibliothek, Kneipe, Galerie, Archiv und subversiver Versammlungsort zugleich.

Radio Glasnost: Peter Wawerzinek bespricht die Ausstellung Igor Tatschkes und der AG Mauerstein in der Berliner Umweltbibliothek 

Moderatorin: „Originell geht es zurzeit in der Umwelt-Bibliothek in Ost-Berlin zu. Die Künstlergruppe AG Mauerstein stellt aus. Peter Wawerzinek hat sich unter die Besucher gemischt.“ 

Peter Wawerzinek: „Tatschke hat Zukunft. ‚Denn die Angepassten fallen von der toten Zeit ab wie Läuse‘, sagte Elias Canetti. Seine Mittel sind denkbar einfachste, ja, geradezu naheliegend. Jeder könnte es, wenn er Igor Tatschke wäre. Er bemalt aufgeklappte Pappkartons, klebt Zeitungsschnitzel hinein oder sprüht Schallplatten einfach ein, füllt alle vier Wände des Raumes bis zur Decke aus. In der Mitte der bemalte Fernseher, ein Testprogramm.

Seine Kunst ist absolut eigenständig, jedoch ist der Zugang nicht so leicht. Denn immerhin hat er die Großstadt auf Echos abgeklopft – ein überhaupt chaotischer Fundus, für jeden Bürger, jeden Künstler dieser Stadt gratis, erst recht für ihn. Und er trifft den Nerv der Zeit, seiner Zeit, weil er in einer Bewegung steckt, die unmittelbare Veränderung bereits praktiziert, still aufkommende Gefühle gegen Althergebrachtes auslebt, expressiv orientiert ist im Bewusstsein, Grundlegendes in der Kunst wie im Leben zu verändern – beides nebeneinanderliegend.
Er arbeitet nicht im Verborgenen. Er hat die Bewegung und Abstraktion in der Kunst lebendig gemacht, neu inszeniert, um Dinge zusammenzubringen – Häuser, Schönheit, Egozentrik, Parolen, Wut, Körperteile, Blickwinkel, Armreifen, Ohrläppchen, Schrift, schließlich Autos, Papierknistern, Pornografie und Taxifahrer, wie sie halt eben gewöhnlich so nebeneinanderliegen.
Dies aufzuzeigen ist die eigentliche Provokation seiner Bilderwelt. Es handelt sich eben nicht um ein jugendlich frisches Großstadtfrühlingsgedichtchen, angefüllt mit schlappen Vergleichen, doppelsinnigen Anspielungen, verdeckten Aussagen. Seine Kunst ist pur, und rund ist der Raum, in dem sie sich artikuliert.
Wenn einst die Wirklichkeit seiner Bilder ihr gleichen wird, hat die eigentliche Revolution der Sinnlichkeit, der Entladung stattgefunden. Ja, der Betrachter, der eingeweihte oder nicht eingeweihte, wünscht sich ein solches Berlin, eine solche Stadt, die farbentolle Motzer-Zentrale, eingehüllt vom swingenden Rhythmus der Sofortäußerung.“ (Quelle: Radio Glasnost, Oktober 1987)

Noch ein Text von Dietmar Wolf: „Meine erste Begegnung mit der Umweltbibliothek Berlin war im Frühjahr 1987 die Eröffnung der UB-Galerie. Diese sollte ein Ort sein, in dem Künstler ausstellen können, die in den staatlichen Galerien keine Möglichkeit dazu bekommen. Außerdem gab es ein kleines Café.
Einer der wichtigsten Ausstellungen war ohne Zweifel die Punk-Art-Ausstellung der AG-Mauerstein mit Igor Tatschke. Vorher gab es eine AG Mauerstein-Ausstellung in der Privatgalerie von Jörg Deloch. Diese Ausstellung rief derart großes Interesse hervor, dass sie von der Polizei geschlossen wurde. Nachdem der Betreiber für den Fall der Weiterführung mit einer hohen Geldstrafe bedroht wurde, zog die Ausstellung in die UB-Galerie um.
Bei der Wiedereröffnung in der UB-Galerie kam es zu „tumultartigen Szenen“. Ich erinnere mich gut an diesen Abend. Im Frühjahr 1987 war ich 21 Jahre alt. Ein knappes Jahr zuvor hatte ich meine 18 Monate NVA abgerissen. Meine Freundin hatte mit mir Schluss gemacht, ich arbeitete im Schichtdienst, war komplett unpolitisch, desorientiert und interessierte mich eigentlich nur für Mädchen, Disco und Saufen. Ich wusste zwar, dass es eine so genannte Oppositionsszene gab, in der sich meine Eltern sehr intensiv bewegten. Doch für mich war das eigentlich nicht. Alle Versuche meines Vaters, mich dafür zu interessieren, schlugen bis dahin fehl. Ein guter Freund fragte mich, ob ich Lust hätte, zu einer Super-Fete mitzukommen.
Allerdings wäre die in einer Kirche. Nach anfänglichen Bedenken willigte ich ein und wir gingen in die Griebenowstraße zur Zionskirch-Gemeinde. Schon auf der Straße vor dem Gemeindehaus und im Innenhof herrschte reger Betrieb. Überall standen Punks, Gruftis und langhaarige Typen herum. Aus der obersten Etage des Hinterhofs dröhnte Musik. Wir gingen hoch. Ab der 2. Etage war kaum ein Durchkommen. Man musste sich an und über Körper vorbei drängeln. Oben angekommen war es noch schlimmer. Auch hier Punks, Gruftis und Langhaarige wohin man sah.
Ein Anblick, der für mich völlig neu war. Die Musik dröhnte ohrenbetäubend. Die Luft war zum schneiden. Es stank nach Tabak, Alkohol und Schweiß. Meinen Freund hatte ich schon nach kurzer Zeit aus dem Auge verloren und sollte ihn an diesem Abend auch nicht wieder sehen. Ich war erschüttert und gleichzeitig fasziniert. Die Ausstellung, oder besser das, was ich auf Grund des Platzmangels sehen konnte, ist in meiner Erinnerung nur mit Worten wie „extrem“, „krass“ oder „bizarr“ zu benennen. Ein wildes Durcheinander in schwarz-weiß. Dunkelste Comic-Art, vermengt mit Wortfetzen von scheinbar sinnlos bis obszön begleitet. Nach etwa einer Stunde war ich so geplättet, dass ich den Ort verlassen musste und völlig verstört nach Hause ging.“